[kinoki-mikrokino] #140 ALMfilm: Erkenntnisgewinn durch zuhören können

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Mit Nov 29 11:57:36 CET 2006


KINOKIS MIKROKINO

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depot, Breite Gasse 3, 1070 Wien, http://www.depot.or.at
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5. Dezember 2006, 19:00, freier Eintritt.
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kinokis mikrokino #140

ALMfilm: Erkenntnisgewinn durch zuhören können


Der ALMfilm ist ein intensiver Dokumentarfilm über den Arbeitsplatz von
Menschen mit geistiger Behinderung, der sogenannten "Alm" oberhalb des
Kahlenberger Dörfls im Wienerwald. Behinderung wird dabei in keiner  
Szene
"ausgestellt".
Die MitarbeiterInnen kommen zu Wort in Sprache oder Ausdruck und der  
Film bietet
die Gelegenheit, diese Menschen über das Jahr bei ihren Tätigkeiten,  
Träumen
und Reflexionen zu begleiten.
ALMfilm erzählt vom Meistern des Alltags und der Kraft und dem
Selbstbewusstsein, die daraus folgen.
(Diagonale 2006)

ALMfilm von Gundula Daxecker
A 2006, 69 min., mit Manuela Hauer, Julia Panholzer, Hans Hoffmann,  
Murat
Börekci, Wolfgang Krejar und vielen anderen

Buch, Regie, Schnitt: Gundula Daxecker
Kamera, Postproduktion: Ludwig Löckinger
Eine Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH
http://www.geyrhalterfilm.com


Anschließend Diskussion mit Gundula Daxecker, Murat Börekci, Manuela  
Hauer, Julia Panholzer (ALMmitarbeiterInnen) und Achim Schwarz  
(Betreuer auf der ALM)



Wozu der ALMfilm?

"Was hat der ALMfilm den Almleuten gebracht? Außer Abwechslung im
Arbeitsalltag an Drehtagen und einem Ausflug nach Graz mit Essen auf
Kosten der Filmproduktionsfirma, außer dem Erlebnis, sich selbst auf
der großen Leinwand zu sehen und dem Applaus nach der Vorführung,
außer der Erfahrung, wie es ist, in einem Film mitzuwirken und was es
heißt, offen über sich zu sprechen, außer der Selbsterkenntnis, zu der
die intensiven Interviews führten, außer der Freundschaft zu den
Filmleuten, die den Filmdreh überdauerte, außer den mehr oder weniger
willkommenen Verzögerungen des Arbeitsbeginns, weil erst noch die
Kamera perfekt positioniert werden musste, außer einem
außergewöhnlichen Dokumentarfilm über eine außergewöhnliche
Beschäftigungstherapie-Einrichtung, eigentlich nicht viel."
Bernhard Girstmair (Leiter der ALM)


Weitere Texte:

Ein berührender Film!

Aus meiner beruflichen Geschichte, ich  bin psychiatrischer  
Krankenpfleger, hatte ich intensiven Kontakt mit behinderten Menschen.  
Das war 1977-80 während meiner Ausbildung. Damals gingen wir, von der  
offenen Psychiatrie in Italien inspiriert mit den geistig und  
körperlich schwerstbehinderten Menschen von der Institution „Steinhof“  
in die Gesellschaft hinaus, machten Ausflüge und Tiergartenbesuche..  
Muteten uns und die Patienten der Bevölkerung zu.
Viele der damals hospitalisierten Patienten hätten in alternativen  
Wohnprojekten leben können, hätte es solche gegeben.
Der ALM-Film von Gundula Daxecker hat ein Stück meiner Vergangenheit  
wachgerufen und mir gezeigt wie Menschen mit Behinderungen heute ihr  
Leben meistern können. Mehr noch, der Film hat mir gezeigt, dass diese  
Menschen die gleichen Gefühle und Sehnsüchte haben wie sogenannte  
Normale, Gesunde.
In Gundulas Film werden diese Menschen mit all ihren Bedürfnissen,  
Emotionen und Befindlichkeiten gezeigt. Auf eine unspektakuläre und  
sensible Art und weise, die es möglich macht den Menschen zu sehnen, in  
seiner Würde und Integrität.
Die Aufmerksamkeit, der Fokus gilt ganz diesen Menschen, wissentlich,  
dass das gezeigte nur ein kleiner Abschnitt ihres Lebens ist.  
Wissentlich auch der im Film kaum gezeigten Menschen die dieses  
Alm-Projekt und die Menschen dort unterstützen.
Gundula Daxecker  ist es gelungen mit wenigen Fragen viele Antworten zu  
bekommen.  Der Film weckt in mir eine Verbindung zu Sten Nadolnys „ Die  
Entdeckung der Langsamkeit“ wo auch „andere“ Dimensionen menschlicher  
Eigenschaften eine Rolle spielen.
Ein Film der beitragen kann die Kluft zwischen normal und behindert zu  
verkleinern und unbedingt einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt werden  
sollte.


Günter Pichler
Akad. Pflegemanager
SOWAS -Chefredakteur



Realistisch ist nur die Beziehung, die wir zu den Leuten haben – und  
wie sie sich vor der Kamera zeigt.“

Gespräch mit Gundula Daxecker über ihren Dokumentarfilm ALMfilm
von Thomas Korschil


Thomas Korschil: Wie bist du dazu gekommen, dich mit Menschen mit  
geistigen Behinderungen filmisch auseinanderzusetzen?

Gundula Daxecker: Manuela Hauer, eine der Hauptprotagonistinnen, kenne  
ich schon länger, u.a. vom „Siebenstern“, als sie dort noch weniger  
integriert war als heute, noch nicht so viele Leute kannte. Aber  
zumindest war das ein Lokal, wo sie nicht einfach weggeschickt wurde.  
Ich kann mich erinnern, wie sie vorm Eingang am Boden gesessen ist und  
Selbstgespräche geführt hat. Mich hat das berührt, dass sie anscheinend  
niemanden hatte, mit dem sie kommunizieren konnte. Ich habe dann die  
Erfahrung gemacht, dass sie sich verständlich machen und gut ausdrücken  
kann.

T: Was mir an deinem Film gut gefällt, ist, dass er offensichtlich  
nicht versucht, das „Alm“-Projekt umfassend zu dokumentieren, sondern  
sich auf einige wenige Personen konzentriert.

G: Wir haben während der Weinernte zu drehen begonnen und wollten die  
Leute ursprünglich insgesamt viel bei der Arbeit zeigen. Es hat sich  
für uns dabei aber schnell ein Wiederholungseffekt eingestellt. Schon  
in der ersten Drehwoche haben wir auch mit den Interviews begonnen, die  
im Laufe der Dreharbeiten immer wichtiger wurden. Das war ein längerer  
Prozess. Murat Börekci, z.B., wollte zunächst nicht mitmachen, wurde  
dann aber zu einer der wichtigsten Figuren im Film. Beim ersten  
Interview hat er geglaubt, schnell eine Antwort geben zu müssen. Er ist  
aber nicht schnell und braucht seine Zeit zum Nachdenken und Sprechen,  
so dass wir gar nicht richtig ins Gespräch gekommen sind. Am nächsten  
Tag wollte er gleich das nächste Interview machen, und das konnten wir  
schon für den Film verwenden – da hat es funktioniert und ich habe  
gewusst, wie ich mit ihm reden muss.

T: Inwieweit waren die Gespräche Interviews im Sinne von gezielten  
Fragen und thematischen Vorgaben für die ProtagonistInnen?

G: Grundsätzlich habe ich mir überlegt, sie einfach erzählen zu lassen,  
was sie gerade erzählen wollten. Es gibt viele Stunden  
Interviewmaterial, wo sie über Sachen reden, die nicht im Film  
vorkommen, weil sie nicht so interessant oder vielleicht auch zu  
persönlich waren. Wichtig war, eine Situation zu schaffen, in der sie  
nicht darüber nachdenken müssen, was gerade gut oder gescheit zu sagen  
wäre – ich wollte jeden Druck wegnehmen, sie frei reden lassen.  
Zugleich hatte ich Themen, nach denen ich gefragt habe. Es sollte um  
Vergangenheit und Erinnerung gehen, Familie und um das „Hier und Jetzt“.
Durch die Sprechpausen, die auch im Film vorkommen, entsteht ein Raum  
zum Nachdenken und Nachspüren. Sprache und Denken waren wichtige Themen  
für den Film. Ich wollte, dass man sieht, dass diese Leute – denen man  
das Denken für gewöhnlich abspricht – denken.

T: Hatten deine ProtagonistInnen ein Mitspracherecht bei der  
Entscheidung, was in den Film kommt und was nicht? Was blieb draußen?

G: Julia Panholzer, z.B., hat viel über ihren Vater erzählt, furchtbare  
Geschichten. Ich hätte sie vielleicht dazu bringen können, einer  
Verwendung davon im Film zuzustimmen. Ich musste verantwortlich damit  
umgehen. Murat wollte nicht, dass seine Eltern vorkommen. Ich bin mit  
den ProtagonistInnen alle Interviewpassagen, die im Film vorkommen  
sollten, durchgegangen, und habe sie gefragt, ob wir sie verwenden  
dürfen.

  T: Manche Gesprächsinhalte werden nicht völlig klar, z.B. Murats  
Geschichte von seinem Freund und dem Verrat. Hast du erwogen, auf  
anderen Ebenen Zusatzinformationen einfließen zu lassen oder wolltest  
du manches auch bewusst offen lassen?

G: Ich wollte auf keinen Fall einen Off-Kommentar oder Zusatztexte,  
weil ich finde, dass die ProtagonistInnen sehr wohl für sich sprechen  
können. Dass dann vielleicht nicht immer alles klar ist, habe ich  
bewusst in Kauf genommen. Ich hätte es wirklich öd gefunden,  
anzufangen, sie zu erklären. Ich finde es interessant, wenn man nach  
dem Film Fragen hat, nicht alles erklärt ist und der Film auch zum  
Nachdenken anregt.

T: Mir hat sich wiederholt die Frage aufgedrängt, inwieweit die  
ProtagonistInnen ein Bewusstsein über ihre eigene Situation und ihre  
Mitwirkung beim Film haben. Dass du sie sich derart öffnen lässt und  
unkommentiert zeigst, kann man ja durchaus auch problematisch sehen.

G: Es war für mich schon eine Gratwanderung. Wie Murat z.B. die  
Geschichte mit seinem Freund erlebt hat – er will, dass die Leute das  
wissen, dass ihm das so passiert ist. Wenn er unterwegs ist und die  
Leute auf der Straße glauben, er sei betrunken und sich zu einer  
Schlägerei provozieren lässt – er möchte, dass die Leute wissen, dass  
er aufgrund seiner Gleichgewichtsstörungen torkelt und nicht, weil er  
betrunken ist. Oder wenn er sagt, dass ihn niemand mag und er jemand  
sei, den man nicht mögen könne – das ist für ihn nicht zu persönlich  
oder privat.

T: Im Unterschied zu Murat, der sich selber viel reflektiert, scheinen  
andere mehr in ihrer eigenen Welt zu bleiben, was sich auch im Umgang  
mit der Sprache ausdrückt. Manuela könnte man z.B. als virtuose  
Sprachkünstlerin sehen, wodurch konkrete Probleme möglicherweise  
ästhetisiert und verklärt werden.

G: Ja, vielleicht ist das eine Möglichkeit für das Publikum sich zu  
distanzieren, weil die Leute sehr direkt sind. Sie gehen direkt auf  
einen zu, und das merkt man eben auch im Film. Einerseits erlebt man  
diese Direktheit und andrerseits ist es eben ein Film und eine  
Möglichkeit, Distanz herzustellen, weil die Leute einem vielleicht oft  
näher kommen, als man das möchte. Aber ich habe kein Problem mit einer  
ästhetisierenden Lesart, weil ich glaube, dass man vielleicht Momente  
verklären kann, Teile, aber die Personen selber verklärt man nicht.

T: Welche Rolle haben die BetreuerInnen im Film?

G: Die BetreuerInnen sollten im Hintergrund bleiben. Dass sie  
vorkommen, war für den Zusammenhang wichtig, dass man sieht, dass die  
KlientInnen nicht einfach sich selbst überlassen sind, sondern dass es  
diese Realität von Betreuung und einem geschützten Arbeitsplatz gibt.  
Ich wollte mit diesem Film vom typischen Bild von KlientInnen oder  
„Behinderten“, die auf Hilfe angewiesen sind, wegkommen – zumindest ein  
wenig: Die ZuseherInnen haben so die Möglichkeit den ProtagonistInnen  
auf einer gleichberechtigten Ebene zu begegnen. Eine Identifikation des  
Publikums mit den BetreuerInnen würde den KlientInnen wieder den Platz  
zuweisen, den sie in unserer Gesellschaft ohnehin haben. Ich wollte  
einen neuen Raum für sie schaffen.

T: Die geografische Abgeschiedenheit der „Alm“, wie sie der Film  
vermittelt, scheint symptomatisch für die Position von Menschen mit  
Behinderung in unserer Gesellschaft zu sein.

G: Man hat eigentlich kaum Kontakt mit behinderten Leuten und wenn man  
jemanden sieht, hat man entsprechende Vorurteile und Ängste. Ich habe  
jetzt sicher einen anderen Zugang zu Menschen mit geistiger Behinderung  
als vorher und ich finde, dass viel mehr gemacht werden müsste, um sie  
zu integrieren. Manuela z.B. hat sich im „Siebenstern“ ihren Platz  
geschaffen, in bestimmten Bereichen sind Leute offen. Aber Behinderung  
ist in Österreich kein Thema. Die Leute interessieren sich nicht dafür.  
Weil sie zu wenig wissen und so mit der ganzen Thematik scheinbar  
nichts zu tun haben. Aber es könnte eine Bereicherung sein, und es ist  
wichtig für eine Gesellschaft, dass Randgruppen integriert werden. Der  
Film schafft Öffentlichkeit und eine Situation, in der man diesen  
Menschen zuhört und zuhören muss, wenn man einmal im Kino drinnen ist.

T: Was für Perspektiven haben die „Alm“-Leute?

G: Für die KlientInnen ist die „Alm“ eine selbst gewählte  
Arbeitsstätte, die sie auch wieder verlassen können, wenn sie wollen.  
Für viele ist die „Alm“ ein Schritt in die Selbstständigkeit, sie  
verdienen ihr eigenes Geld (Taschengeld und Sozialhilfe) und werden vom  
Verein unterstützt, ein eigenständiges Leben in einer eigenen  
(betreuten) Wohnung zu finden. Ich habe die Zeit auf der „Alm“ aber  
auch oft als trist und hoffnungslos empfunden. Murat ist depressiv, was  
auch im Film spürbar ist. Ich habe mich sehr bemüht, primär das  
Positive zu zeigen, das, was das Leben schön macht. Trotz des starken  
Lebenswillens der Leute, den ich immer wieder erlebt habe, liegt über  
allem eine enorme Schwere. Was macht Julia in 20 Jahren?

T: Wie haben die ProtagonistInnen den Film aufgenommen? Bei der  
Diagonale haben sich einige von ihnen offensichtlich amüsiert.

G: Für mich war das wie ein Geschenk und ein schöner Abschluss des  
Projekts. Dass sie sich so groß im Kino sehen konnten, war toll für  
sie. Sie waren sehr stolz auf sich. Das Ganze hatte auch einen  
therapeutischen Effekt. Bernhard Girstmair, der Leiter der „Alm“, hat  
gemeint, der ALMfilm hat die „Alm“ verändert. Die Leute hätten in den  
vielen Interviews die Möglichkeit gehabt, über sich und ihr Leben  
nachzudenken. Das hat viel bewirkt an Selbstreflexion und  
Selbstbewusstsein. Murat, der ein so großes Problem damit hatte, sich  
zugehörig zu fühlen, teilt sich jetzt das Bürgermeisteramt auf der  
„Alm“ mit Manuela. Und die Wickel zwischen Julia und Murat haben sich  
auch geklärt.

T: Wickel? Im Film ist es ja so, dass sie am Ende zusammen kommen.

G: In Realität war alles viel komplizierter. Julia hatte einen anderen  
Freund und Murat war hasserfüllt und wollte sie nicht mehr sehen etc.  
Lustigerweise sind sie dann aber irgendwie zusammen gekommen –   
vielleicht auch durch den Film. Ich wollte keine heile Welt vermitteln  
– und es wird ja auch klar, wie schwierig diese Beziehung ist –, aber  
ich habe dieses Happyend wie ein Geschenk empfunden und schon beim  
Drehen gespürt, dass das das Ende des Films ist.

T: Das „konstruierte“ Happyend passt zur Haltung des Films – ihr gebt  
nicht vor, bloß von außen zu beobachten. Was habt ihr sonst noch  
inszeniert?

G: Es gibt einiges. Z.B. die Arbeitsbesprechung ohne BetreuerInnen, die  
so nur für den Film stattfand. Bernhard Girstmair hat die Vision, dass  
sich die BetreuerInnen dereinst selbst wegrationalisiert haben werden  
und die „Alm“ von den KlientInnen alleine betrieben wird – diese Utopie  
ist im Film. Realistisch ist nur die Beziehung, die wir zu den Leuten  
haben und wie sie sich vor der Kamera zeigt.

[Das Gespräch wurde am 2. Juni 2006 in Wien geführt.]



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