[kinoki-mikrokino] Empfehlung: Kino Revolution - Dziga Vertov (Filmmuseum, 1.5.-28.5.)

p p at kinoki.at
Mon Mai 1 01:22:48 CEST 2006


hallo, puenktlich zum ersten mai beginnt im filmmuseum ein filmisches
fest fuer den <namenspatron> von kinoki. dziga vertov nannte <kinoki> 
die aktivistInnen des <kino-glaz>, des Kino-Auges. In einem Manifest aus 
dem Jahr 1922 heisst es: <Wir nennen uns 'Kinoki' im Unterschied zu den 
'Kinematographisten' - der Herde von Trödlern, die nicht übel mit ihren 
Lappen handelt. (...) Wir erklären die alten Kinofilme, die 
romantizistischen, theatralisierten und dergleichen für aussätzig. Nicht 
nahekommen! Nicht anschauen! (...) Wir bekräftigen die Zukunft der 
Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart.>
dringende empfehlung! kinok p

Kino Revolution

Österreichisches Filmmuseum
Augustinerstrasse 1
A-1010 Wien
(im Gebäude der Albertina)
http://www.filmmuseum.at

Von 1. Mai bis 25. Juni fächert das Filmmuseum auf vielfältige Weise das
revolutionäre Kino einer revolutionären Epoche auf: Kaum eine andere
Bewegung in der Geschichte hat stärkeren Einfluss auf die Entwicklung
des Mediums ausgeübt als der sowjetische Film der 1920er und frühen 30er
Jahre. Rechtzeitig zum 1. Mai startet die bisher umfassendste
Dziga-Vertov-Schau außerhalb Russlands – mit einer <Live-Rekonstruktion>
von Vertovs Meisterwerk <Der Mann mit der Kamera>. Die Retrospektive
wird von einer neuen Buchpublikation über die einzigartige
Vertov-Sammlung des Filmmuseums und von zahlreichen Vorträgen,
Einführungen und Podiumsdiskussionen mit internationalen Gästen
begleitet. Im Juni folgt das Gesamtwerk Sergej Eisensteins. Begleitet
werden diese beiden Einzelpositionen von 50 Hauptwerken der anderen
Kino-Revolutionäre in der frühen Sowjetunion: von Pudovkin bis Dovženko,
von Lev Kulešov bis Boris Barnet.

Dziga Vertov
1. bis 28. Mai

Programm:
http://www.filmmuseum.at/jart/projects/fm/main.jart?rel=de&content-id=1112937832184&reserve-mode=

Dziga Vertov (1896-1954), geboren als Denis Arkad'evič Kaufman in
Bialystock, wird heute einhellig als einer der größten Filmmacher
angesehen. Er war der Pate eines Kinos, das sich als die moderne Kunst
schlechthin und zugleich als eine gesellschaftlich notwendige Kunst
versteht.

In radikaler Abwendung vom theatralischen, romantizistischen und
psychologisierenden Illusionskino war Film für Vertov ident mit dem
poetischen Dokumentarfilm - nicht als "schöner", "ästhetischer"
Naturfilm, sondern als eine Kunst des Rhythmus und der (rasenden)
Bewegung, die unmittelbar und umstürzlerisch aufs Bewusstsein der
Gesellschaft einwirkt.

In seinen polemischen Schriften wie in seinen überbordenden, im
Sekundentakt überraschenden Filmen bringt er das essentiell Neue, das
Eigene des Filmmediums auf den Punkt: "Ich bin das Filmauge. Ich bin das
mechanische Auge. Ich bin die Maschine, die Euch die Welt so zeigt, wie
nur ICH sie zu sehen imstande bin."

Von den Wochenschauen Kinonedelja (1918/19) und Kinopravda (1922-25),
die faszinierende Einblicke in die frühe Sowjetunion bieten und zugleich
die rasche Entwicklung von Vertovs Filmsprache demonstrieren, bis zu den
abendfüllenden Meisterwerken wie Kinoglaz (1924), Ein Sechstel der Erde
(1926), Das Elfte (1928), Der Mann mit der Kamera (1929), Enthusiasmus
(1930) oder Drei Lieder über Lenin (1934/38) sind Vertovs Arbeiten immer
auch Filme über die ganze Welt.

Sein Anspruch war unerhört und utopisch: "Von den Moscheen von Bukhara
zu den Stahlträgern des Eiffelturms, von den Schächten der Hochöfen in
den ukrainischen Metallwerken zu den Wolkenkratzern in New York. Vertov
wollte hier wie dort präsent sein, und überall gleichzeitig, als hätte
er befürchtet, etwas Bemerkenswertes zu übersehen. Sein 'Mann mit der
Kamera' raste in Autos dahin, flog Flugzeuge, spähte durch Fenster und
wagte sich sogar unter die Erde. Die ganze Welt gehörte ihm und er
fühlte sich überall zuhause. Die Avantgarde der 20er Jahre sah in der
Einheit der Welt die Dämmerung einer globalen Revolution angekündigt."
(Vladimir Nepevny)

Vertovs Interesse am Verhältnis von Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit
wird im Slogan seiner Kinoki-Gruppe - "Lang lebe das Leben, wie es ist!"
- auf paradoxe Weise zugespitzt: "Das 'Leben wie es ist' ist nur dann
'wie es ist', wenn es radikal transformiert wird; wenn es im Takt einer
gigantischen gemeinsamen Symphonie der Materie pulsiert, anstatt als
bourgeoise Individualität privatisiert zu werden. (...) Dieses Leben
realisiert sich nur in der filmischen Vermittlung. Es muss innerhalb
einer einzigen Aufnahme auseinander gerissen und in Stücke zerfetzt und
danach durch die Montage wieder zusammengesetzt werden. Und wenn man die
einzelne Aufnahme als eigenständige, biologisch belebte Einheit sieht,
ist die Montage der göttliche Atem, der sie mit seinem Geist erfüllt.
Sie ist gleichzeitig künstlich und natürlich - nur durch ihre völlige
Künstlichkeit wird sie natürlich." (Hito Steyerl)

Ab Mitte der 30er Jahre wird Vertov mehr und mehr an der Realisierung
seiner Konzepte gehindert: Im Stalinstaat blieben die meisten
Filmschaffenden zwar von Gulag oder Ermordung verschont, doch ihre
Arbeitsbedingungen und individuellen Projekte wurden massiv eingeschränkt.

Am Ende seines Lebens beneidet Vertov den in den Selbstmord getriebenen
Freund Majakovski, dessen Gedichte immerhin in den Büchereien überlebt
hätten. Sein Werk hingegen, schreibt Vertov in den Tagebüchern, sei ihm
verstümmelt, falsch kopiert, verschnitten, weggeworfen, kurz "zur Gänze
ausgelöscht worden".

Es ist also vor allem den Bemühungen der Filmmuseen und Filmarchive zu
verdanken, dass die Dinge heute nicht ganz so im Dunkel liegen wie zu
Vertovs Lebzeiten. Das Österreichische Filmmuseum hat seit Mitte der
60er Jahre seine Filme gesammelt, gezeigt und teilweise restauriert,
eine Auswahl seiner Tagebücher herausgegeben sowie - in engem Kontakt
mit Elisaveta Svilova, seiner Witwe und wichtigsten Mitarbeiterin -
zahlreiche Originaldokumente von und über Vertov erworben und
ausgestellt (Schriften, Skizzen, Fotografien, Plakate).

Die neuere Vertov-Rezeption im Westen ist dadurch maßgeblich geprägt
worden. Die vom Filmmuseum unterstützte Vertov-Schau und Ausstellung
beim Stummfilmfestival in Pordenone (2004) und die weltweit mit
Begeisterung aufgenommene DVD-Edition zu Enthusiasmus (2005) setzten
diese Tradition fort, die nun, mit der aktuellen Retrospektive des
Filmmuseums, einen weiteren Höhepunkt erlebt.

Organisiert in enger Kooperation mit dem Russischen Staatsarchiv für
Film- und Fotodokumente (RGAKFD), geht diese Schau weit über bisherige
Vertov-Präsentationen in Wien hinaus. Sie versammelt zahlreiche Werke
Vertovs, die im Westen bisher kaum bekannt waren.

Und sie wird begleitet von Vorträgen, Filmeinführungen und
Podiumsdiskussionen mit internationalen Gästen sowie der Publikation
eines reich illustrierten Buches, das den Teilnachlass Dziga Vertovs im
Österreichischen Filmmuseum ausbreitet und für die Forschung zugänglich
macht. Der Mann mit der Kamera, einer der einflussreichsten Filme aller
Zeiten, wird erstmals seit 60 Jahren in der kompletten Originalfassung
mit unbeschnittenem Bildformat gezeigt.


revolution will not be televised
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